Wider den Antisemitismus 1906, 1930 und 2006:
Dreyfus - Der Klassiker von Richard Oswald

1906 erlitt der europäische Antisemitismus in der Französischen Republik eine öffentliche Niederlage. Die Verschwörung von Antisemiten, reaktionären Militärs und einer antirepublikanischen rechtskonservativen Gesinnung, der der französische Offizier jüdischer Herkunft, Alfred Dreyfus 1894 zum Opfer gefallen war, wurde vor Gericht aufgedeckt. Dreyfus, der Jahre in Isolierungshaft zugebracht hatte, wurde 1899 freigelassen und 1906 endgültig rehabilitiert. Die Unterstützung für den unbeugsamen Kampf seiner Frau Lucy durch führende Intellektuelle wie Emile Zola, engagierte Sozialisten, demokratische Politiker, Journalisten und Rechtsanwälte führte zu einer gesellschaftlichen Unruhe, die letztlich eine erfolgreiche Verteidigung von Grundrechten und demokratischen Verfassungsnormen bewirkte.

Der Fall Dreyfus wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Beispiel dafür, dass Antisemitismus und Anti-Demokratismus, Verschwörungstheorien und Republikfeindlichkeit Gesinnungen von Trittbrettfahrern sind. Zugleich zeigte die Französische Republik, dass demokratische Traditionen keine leere Hülsen sein müssen und dass die Zurückweisung und Überwindung von Antisemitismus und Rassismus zum Inhalt einer demokratischen Gesellschaft gehören. In Frankreich wurde der Dreyfus-Skandal bis heute zu einem Lehrstück in Sache Demokratie. Nicht so in Österreich und Deutschland.

Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre überzog der gewöhnliche Antisemitismus und Rassismus die öffentlichen Debatten und Auseinandersetzungen in Deutschland mit einer klebrigen antidemokratischen Schicht, die immer mehr BürgerInnen jüdischer Herkunft zu spüren bekamen. Der Antisemitismus der NS-Propaganda und anderer extrem rechter und nationalistischer Kreise, die 1933 dann mit der NSDAP Koalitionen eingingen, war schließlich ein wesentliches Vehikel der Zerstörung der Weimarer Republik von Innen und der Aggression nach Außen.

Der Regisseur, Autor und Produzent Richard Oswald hatte es seit 1919 erfolgreich verstanden, Filme der Aufklärung mit Unterhaltung zu verbinden und für seine Filme die besten SchauspielerInnen Wiens und Berlins zu gewinnen. Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre ging es ihm um realistische, an Wochenschau-Reportagen angelehnte Spielfilme, die zentrale Zeitprobleme darstellen und in die öffentlichen Debatten eingreifen sollten. Das filmische Schaffen sollte durch doku-dramatische, heute durchaus populäre, Filmgenres auf das Publikum wirken. Oswald wollte mit Dreyfus, wie er hinsichtlich seiner historischen Filme betonte, „der Zeit einen Spiegel vorhalten“. Ihm gelang es stets, hochkarätige und populäre SchauspielerInnen für die Projekte seiner Richard Oswald Produktion Berlin zu gewinnen. Dazu gehörten Grete Mosheim, Fritz Kortner, Albert und Else Bassermann, Oskar Homolka, Fritz Rasp, Paul Henckels, Fritz Alberti und in einer beeindruckenden Leistung Heinrich George als Emile Zola im Dreyfus-Film. Der Film hatte am 16. August 1930 in Berlin Premiere und wurde durch einen Einführungsvortrag zum Justizskandal. Die ersten Reaktionen der Presse 1930 sprachen von Glanzleistung, Justizirrtum und Geheimpolitik. Den Kern der Sache umgingen sie, denn dann hätten sie auf den grassierenden Antisemitismus von 1930 eingehen müssen. Dennoch war der Film ein Publikumserfolg und gehörte 1930-1931 zu den zehn erfolgreichsten Filmen in der Weimarer Republik.

Dreyfus ist ein aktueller zeitbezogener Film im historischen Gewand. Er zeigt, wie Antisemitismus, Rassismus, Nationalismus und Fremdenhass sich in einer demokratischen Gesellschaft verbrüdern können, um niedersten Instinkten und antidemokratischen Haltungen den Anschein der Legalität zu verleihen. 1930 war die Wahl des Dreyfus-Skandals als Thema seiner Berliner Filmproduktion eine politische Aussage. Auch 2006 kann dieser Film als aktueller Beitrag zu Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus und Verschwörungstheorien erneut gesehen und diskutiert werden. Inhalte und Strukturen antidemokratischer Vorurteile haben sich seit 1906 und seit 1930 kaum verändert.

1933 allerdings müssen nicht nur Richard Oswald, Fritz Kortner, Grete Mosheim, Albert Bassermann und Oskar Homolka Deutschland verlassen. Der Spielfilm Dreyfus hatte aufgeklärt und angeklagt, er bewirkte Nachdenken, doch verändern konnte er nichts.

Literaturempfehlung: Jürgen Kasten, Armin Loacker (Hg.), Richard Oswald. Kino zwischen Spektakel, Aufklärung und Unterhaltung, Wien: Verlag Filmarchiv Austria 2005.

Frank Stern

Frank Stern lehrt am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien mit Schwerpunkt Visuelle Zeit- und Kulturgeschichte und jüdische Kulturgeschichte. Er war langjähriger Direktor des österreichisch- deutschen Studiengangs an der Universität Beer-Sheva und beschäftigt sich mit jüdischen Themen im deutschsprachigen und internationalen Film seit 1900 sowie mit dem israelischen und palästinensischen Filmschaffen.